Am 05. Mai 2022 fand im Rahmen des Projekts „Vielfalt entfalten – Gemeinsam für starke Schulen“ der erste digitale Landesfachtag mit integriertem Netzwerktreffen der projektbeteiligten Schulen in Hamburg statt. Neben einem angeregten Austausch über krisenbedingte Herausforderungen und Gelingensbedingungen für eine diversitätssensible Schulentwicklung, erhielten die Teilnehmenden Einblicke in die jeweiligen Entwicklungsvorhaben.
Welche Bedeutung hat das Projekt in der Praxis? Vor welchen Herausforderungen stehen die projektbeteiligten Schulakteur:innen? Und was war deren Motivation, am Projekt teilzunehmen? Darüber tauschten sich Anna-Margarete Davis (Abteilungsleitung Programme in der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung), Eric Vaccaro (Referatsleiter Steigerung und Bildungschancen in der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg), Beate Proll (Abteilungsleitung Beratung – Vielfalt, Gesundheit und Prävention im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg), Corinna Jaberi (Lehrkraft und IKO aus dem Schulteam Marienthal) und Hannah Kalhorn (Prozessbegleitung in drei Schulen von „Vielfalt entfalten“) im Eröffnungsgespräch aus:
Unter dem Thema „Diversität in Krisenzeiten und danach – Merkposten für die Schulentwicklung“ beleuchtete Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ingrid Gogolin, Professorin für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, in ihrer anschließenden Keynote die schulischen Herausforderungen und Benachteiligungen durch die Krise und ging darauf ein, warum Vielfalt eine Chance darstellt, um jenen Benachteiligungen entgegenzuwirken. Grundlage bildete unter anderem die KWIK-Studie „Kontinuität und Wandel der Schule in Krisenzeiten“, die sie gemeinsam mit Prof. Dr. Olaf Köller (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, IPN Kiel) und Dr. Dirk Hastedt (International Association for the Evaluation of Educational Archievement) verantwortet.
In ihrem Impuls widmete sich die Professorin auch der sprachlichen Diversität an Schule. Diese sei längst alltägliche Realität in Schulklassen und müsse daher als allgemeine Rahmenbedingung für das Lehren und Lernen anerkannt werden. Wie die Impulsgeberin betonte, brauche es Konzepte der Sprachbildung, die Vorteile der Mehrsprachigkeit berücksichtigen und Nachteile ausgleichen. Die aktuelle Krise zeige jedoch deutlich, dass es für Schulen eine besondere Herausforderung darstellt, die fachlichen und sprachlichen Komponenten der Lerninhalte miteinander zu verknüpfen. Gerade in der Krise sei es allerdings unabdingbar, dass Lehrende sprachliche Materialien (bsp. Wortschatz, Redewendungen, Zugang zum Text) bereitstellen, damit Lernaufgaben in jedem Fach erfolgreich gelöst werden können. Dafür brauche es sowohl Strategien, die das eigenständige Lernen unterstützen als auch dialogische Formate, die die Sprachproduktion von Lernenden aktivieren, so die Professorin weiter. Ebenfalls müssten Schulen die Familien zu sprachförderlichen Aktivitäten ermuntern – auch in ihren Herkunftssprachen – und die entsprechenden Bemühungen würdigen und unterstützen.
In Ihrem Impuls ging die Referentin dabei unter anderem auf zwei Nachfragen ein:
anschließendes Gespräch zwischen der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB), dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (Li), der DKJS und Schulvertreter:innen aus dem Projekt
Eine systematische und valide vergleichende Untersuchung zur Rolle von mündlichen Aufgaben oder Lernleistungen (wie Präsentationen), für den Schulerfolg von Kindern oder Jugendlichen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, liegt nicht vor. Das gleiche gilt übrigens für die Frage nach dem Verhältnis beider Leistungsbereiche für einsprachig lebende Schülerinnen oder Schüler.
Die Aufteilung von Leistungsanteilen im Mündlichen oder Schriftlichen beruht auf Traditionen und Erfahrungswerten, nicht aber auf fundierten empirischen Analysen. In den beiden Bereichen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geht es um hochgradig unterschiedliche Anforderungen an die Entwicklung von Fähigkeiten und an das Lernen. Sie hängen zwar zusammen (da es sich in beiden Bereichen um sprachliche Fähigkeiten handelt), aber Fähigkeiten im Mündlichen ersetzen Fähigkeiten im Schriftlichen nicht – und umgekehrt. Es lässt sich auch nicht sagen, ob Lernende in mündlichen Lernsituationen signifikant bessere Ergebnisse erzielen als in Schriftlichen. Die beiden Modalitäten beinhalten ja jeweils unterschiedliche Herausforderungen, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Die Unterstützung von mündlichen Lernangeboten durch schriftliche Hinweise kann das Verstehen und Üben erleichtern – wie umgekehrt: mündliche Hinweise können für die Bewältigung schriftlicher Herausforderungen erleichternd sein.
Eine gesicherte Erkenntnis ist jedoch, dass gesellschaftliche Teilhabe, zu der die schulische Bildung schließlich befähigen sollte, über Mündlichkeit allein nicht möglich ist. Eine Person, die nicht auch über Fähigkeiten im Schriftlichen verfügt, ist in weiten Teilen des Lebens benachteiligt, wenn nicht sogar von Beteiligung ausgeschlossen. Und tatsächlich ist ja doch die Schule der privilegierte (viele der einzige) Raum dafür, sich in Kindheit und Jugend mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit vertraut zu machen.
Nach meiner bisherigen Lesart der Entwürfe der Bildungspläne sollen mündliche Leistungen nicht abgeschafft werden. Vielmehr wird insgesamt – stärker und genauer, als das bis dato der Fall war – die Bedeutung sprachlicher Bildung als Querschnittsaufgabe betont. Dies ist zunächst einmal sehr zu begrüßen. Hingewiesen wird auf die Differenziertheit der sprachlichen Kompetenzen, mit denen Lernende vertraut gemacht werden müssen (siehe z.B. Kompetenzmatrizes). Zu den jeweiligen Teilkompetenzen werden sehr anschaulich Deskriptoren angeboten, wobei auf die Spezifik mündlicher und schriftlicher Handlungen jeweils hingewiesen wird. Unabhängig davon, ob im jetzigen Entwurf bereits jede Formulierung bereits so ganz und gar gelungen ist, ist aus meiner Sicht diese Perspektive auf das Aufgabenfeld der sprachlichen Bildung als Grundlage für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen sehr geeignet.
In den Begleitdiskussionen zu den Entwürfen der neuen Bildungspläne wurde die Veränderung des Verhältnisses von mündlichen und schriftlichen Leistungsüberprüfungen sehr kritisch diskutiert. Die pauschale Kritik ist aus meiner Sicht schwer nachvollziehbar. Übersehen wird dabei, dass es Themen und Gegenstände gibt, die sich für die Bearbeitung im Mündlichen gut eignen, und andere, die besser im Schriftlichen bearbeitet werden können – oder auch: schriftlich bearbeitet werden müssen, weil sie üblicherweise gar nicht mündlich vorkommen.
Gerade für Kinder und Jugendliche, für die Deutsch nicht die erste und einzige Lebenssprache ist, ist es eine Voraussetzung für Bildungserfolg, dass ihnen die Differenzen zwischen mündlichen und schriftlichen Ausdrucksformen, zwischen hören und schreiben so transparent wie möglich gemacht werden, damit sie die jeweiligen Anforderungen auch selbst bewältigen können. Will man ihnen das Lernen „erleichtern“, indem ihnen schwierigere Aufgaben gar nicht erst zugemutet werden, bedeutet das im Ergebnis auch: sie fernzuhalten von Fähigkeiten, ohne die sie auch von relevanten Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sein werden.
Wenn die Bildungspläne durch die Betonung der Querschnittsaufgabe sprachliche Bildung dazu beitragen, dass diese Herausforderung an ihre Arbeit allen Lehrerinnen und Lehrern noch deutlicher wird, als sie das bis jetzt war, können sie sich positiv auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen auswirken – und zwar nicht nur, aber auch derjenigen, die zwei- oder mehrsprachig leben und lernen.
Nach der Keynote fanden sich die Teilnehmenden in parallel stattfindenden Workshops zusammen. Nurten Karakas bot den Workshop zum Thema „Diversität im Klassenzimmer an“ und ging unter anderem den Fragen nach, was Diversität für die Lehrer:innenschaft bedeutet, wie diese persönlich zu einer diversitätssensiblen Schulentwicklung beitragen können und worin die Gelingensbedingungen und Fallstricke liegen. Grundlage bilden die Ergebnisse aus der Studie „Vielfalt im Klassenzimmer“ (Georgi, Ackermann, Karakas, 2011). Um die Zusammenhänge von Klassismus und Bildung ging es indes beim Workshop „KlasseBILDUNG“ mit Chris Höppner. Nach einem kurzen Impuls folgte ein kollegialer Austausch erster Ideen und Maßnahmen für eine klassismussensible Praxis. Gemeinsam mit Dr. Anke Edelbrock widmeten sich die Teilnehmenden derweil dem Thema „Religiöse Vielfalt im schulischen Alltag“. Die Referentin gab hilfreiche Tipps, wie mit Widerständen – sowohl innerhalb des Kollegiums als auch der Schüler:innenschaft – umgegangen werden kann und wie sich eine Schulgemeinschaft trotz Unterschiede etablieren lässt. Im vierten Workshop beschäftigten sich die Teilnehmenden gemeinsam mit Selda Akbayir mit dem Thema „Diskriminierungen erkennen und abbauen – Handlungsleitfaden für Diskriminierungsvorfälle“. In ihrem Impuls ging die Referentin unter anderem darauf ein, wie sich ein Beschwerdeverfahren an Schule etablieren lässt, welche Interventionen bei Konfliktsituationen möglich sind und wie sich Diskriminierungen identifizieren lassen, die durch schulinterne Routinen und Regelungen begünstigt werden.
Nach den Workshops fanden sich die Schulteams zum Gesamt-Netzwerktreffen zusammen und gingen in Kleingruppen in den Austausch darüber, welche krisenbedingten Herausforderungen und Gelingensbedingungen sie in ihrer Arbeit identifizieren. Ein praktischer Erfahrungsaustausch über die größten Hürden und Highlights in ihren diversitätssensiblen und diskriminierungskritischen Entwicklungsvorhaben ermöglichte den Teilnehmenden praxisbezogene Einblicke und gegenseitiges Feedback.