#moinVIELFALT

Diversität im Schulbuch

Diskriminierungskritischer Umgang mit Unterrichtsmaterialien

Zahlreiche Studien zeigen, dass diskriminierende und rassismusrelevante Inhalte bereits in Grundschulbücher enthalten sind und sich folgenschwer auf den Unterricht sowie adressierte Schüler:innen und Lehrpersonen auswirken. Aber auch vermeintlich diversitätssensibel gestaltetes Unterrichtsmaterial hält nicht immer, was es verspricht. Welche Identitäten, Lebenswelten und Erfahrungen sind in unseren Bildungsmedien sichtbar? Wie können wir diversitätssensibles Material erkennen und auswählen? Wie können wir auch mit „schlechtem“ Material guten Unterricht ermöglichen?


Dr. Janina Vernal Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Universität Hildesheim und beschäftigt sich u.a. mit den Themenfeldern Bildungsmedien sowie Schule und Heterogenität. Im Rahmen des Austausch-formats #moinVIELFALT führte sie die teilnehmenden Hamburger Lehrkräfte in das Themenfeld „Diversität in Unterrichtsmaterialien“ ein. Gemeinsam wurden aktuelle Praxisbeispiele diskutiert sowie konkrete Handlungs-möglichkeiten zur Sensibilisierung für und zum Umgang mit (kritischen) Unterrichtsmaterialien diskutiert.  

‘Schulbücher sind Ausdruck eines kulturellen Selbstverständnisses einer Gesellschaft. ’ 

So lautete das Eingangszitat der Runde. Unterrichtsmaterialien und insbesondere Schulbücher sind Ausdruck eines gesellschaftlichen „Kerncurriculums“ und dokumentieren, welche Inhalte und Werteorientierungen Schüler:innen kennen, lernen und können sollten. Sie dienen der Verständigung in einer vielfältigen Gesellschaft. Die enthaltenen Interpretationsangebote müssen jedoch nicht zwangsläufig übernommen werden, sondern können gemeinsam kritisch untersucht, überarbeitet oder gar abgelehnt werden. 

Ein solch kritischer Blick ist laut der Referentin angesichts einer Vielzahl wissenschaftlicher Befunde, die für den Großteil der untersuchten Schulbücher eine fehlende Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität feststellen, erforderlich. Kritisiert wird, dass sich die Darstellungen sprachlich an monolingual aufwachsenden Schüler:innen orientieren, migrationsgesellschaftliche Vielfalt kaum Berücksichtigung findet oder als „Sonderthema“ verhandelt wird, oder diskriminierende Repräsentationsverhältnisse, z.B. durch rassistische Begrifflichkeiten oder Darstellungen, reproduziert werden. Weiterhin finden sich Materialien, die das Leben in bestimmten Weltregionen stereotypisierend oder pauschalisierend als defizitär präsentieren oder bestimmte Normvorstellungen (z.B. „Weiß- und Christlichsein“ als „Normal- und Deutschsein“) vermitteln, in denen z.B. Migrant:innen prototypisch als „anders“ und problemhaft erscheinen. 

Mittels einer gemeinsamen Analyse aktueller Kontroversen zeigte die Referentin, dass kritische Untersuchungen von Bildungsmaterialien zwar Veränderungsprozesse, z.B. in Form von Überarbeitungen defizitärer Darstellungen, anstoßen können. Sie wies jedoch auch auf die Grenzen jener Problematisierungen hin. Die Debatte über diskriminierungsrelevante Ein- und Ausschlüsse und entsprechende Darstellungen in Bildungsmedien enthält einerseits das Risiko, die ursprünglich problematisierten Differenzen zu bestätigen. Dies trifft in solchen Fällen zu, in denen als Reaktion auf eine öffentliche Debatte zwar diskriminierende Begrifflichkeiten, nicht jedoch kritisierte Darstellungen selbst überarbeitet werden. Anderseits gilt zu berücksichtigen, dass die Überarbeitung von Unterrichtsmaterialien allein noch keine „diskriminierungsfreien“ Schulen schafft. So kann es sich ebenfalls anbieten, als diskriminierungsrelevant identifizierte Schulbuchinhalte in der pädagogischen Praxis zu verwenden und gemeinsam mit den Schüler:innen zu analysieren und problematisieren.

„Es geht darum, zu lernen, nicht sofort eine bestimmte Haltung einzunehmen, uns nicht sofort zu verschließen, sondern eben auch darum, uns immer wieder in Frage zu stellen. Das ist das, was Diskriminierungssensibilität oder -reflexivität und -kritik eigentlich auch bedeutet: Sich selbst immer wieder in Frage zu stellen. Und das Scheuklappen- oder starre Denken abzulegen.“

In Anlehnung an die Pädagogin und Migrationswissenschaftlerin Irina Grünheid (2020) schlägt die Referentin folgende Reflexionsfragen für die praktische Umsetzung einer solchen kritischen Betrachtung des verwendeten Unterrichtsmaterials vor:  

  • Wer wird als Adressat:in des Textes/Mediums konstruiert? 
  • Wer wird wie repräsentiert bzw. dargestellt, wer wird nicht repräsentiert? 
  • Welche Vorstellungen von ‘Normalität’ werden vermittelt? 
  • Welche Begriffe werden verwendet, um Menschen zu benennen und zu beschreiben? 
  • Wie werden geo-politisch verortete, nationale, ethnische, kulturelle oder religiöse Gruppen thematisiert? 
  • Welches und wessen Wissen wird als relevant erachtet, welches bzw. wessen Wissen fehlt? 

Materialempfehlungen


Über die Referentin: 

Dr. Janina Vernal Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Stiftung Universität Hildesheim. Aktuell ist sie als Postdoc und Koordinatorin des DAAD-Projekts „TRANSLANG – Translanguaging in der internationalen Lehramtsausbildung“ tätig. Sie arbeitet und forscht zu folgenden Themenfeldern: Mehrsprachigkeit und Migrationsgesellschaft, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, Spanischdidaktik, Bildungsmedien, Schule und Heterogenität, Rassismuskritische Bildung in Theorie und Praxis sowie Rekonstruktive Sozialforschung. Ihre jüngste Publikation „Die Darstellung der Kolonialisierung Amerikas – eine rassismuskritische Analyse einer Lehrwerklektion im historischen Vergleich“ wurde in Manuela Frankes und Kathleen Plötners (2022) Sammelband „Rekonstruktion und Erneuerung: Die neue Lehrwerksgeneration als Spiegelbild fremdsprachendidaktischer Entwicklungen“ (Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag)  veröffentlicht. Eine Übersicht zu Vernal Schmidts Publikationen, die in hohem Maße auf unser Veranstaltungsthema „Diversität im Schulbuch“ einzahlen und entsprechende (Unterrichts-)Materialien analysieren oder bereitstellen, finden Sie hier

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