Gemeinsam für eine diversitätssensible Schulentwicklung

Länderübergreifender Fachtag „Schule und Bildungsverwaltung als Dreamteam“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften


Im Rahmen des Projekts „Vielfalt entfalten – Gemeinsam für starke Schulen“ kamen am 25. Mai 2023 pädagogische Fachkräfte, Personen aus der Bildungsverwaltung und -steuerung, dem Unterstützungssystem von Schule sowie der Aus-, Fort- und Weiterbildung und Beratung von Lehrkräften zusammen. Über 120 Teilnehmende suchten unter dem Veranstaltungstitel „Schule und Bildungsverwaltung als Dreamteam“ nach Antworten auf die Frage: Wie können wir gemeinsam eine diversitätssensible Schulentwicklung gestalten?

Nach den eröffnenden Impulsen von Prof. Dr. Karim Fereidooni, Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissen-schaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, und der DKJS-Geschäftsführerin Anne Rolvering konnten die Teilnehmenden ihre Expertise und Anliegen in vier parallelen Workshops einbringen. Eine abschließende gemeinsame Diskussionsrunde bündelte die Ergebnisse. Durch den Tag führte Moderatorin Boussa Thiam, die zu Beginn der Veranstaltung einmal mehr betonte, wie wichtig es sei, sich den bildungspolitischen Herausforderungen gemeinsam zu stellen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Bildungserfolg in kaum einem anderen Land so sehr von der sozialen Herkunft abhängt wie in Deutschland. Neben Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten unter den Teilnehmenden, pointierte eine multimediale Ausstellung die zentralen Erkenntnisse aus vier Jahren Projektlaufzeit von „Vielfalt entfalten“. Den Ausklang bildete das Trio „Funny Bone“ mit jazzigen Klängen zum Abendbuffet.

Diversitätssensibilität in Bildungseinrichtungen

© dkjs/ Jörg Farys

Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Impuls von Prof. Dr. Fereidooni, der dafür digital dazugeschaltet wurde. Darin fragte er: Wie kann man das Bildungssystem gerechter machen? Zentral, so seine erste Antwort, sei eine stärke Diversitäts-sensibilität aller Beteiligten. Neben notwendigem Wissen über die Rollen der Lernenden, das sich aus der pädagogischen Praxis ergeben müsse, bedeute das vor allem, sich selbst und die eigene Haltung zu reflektieren. Auch in der Bildungsverwaltung sollten sich Akteur:innen verstärkt die Frage stellen, ob ihre Arbeitseinheit personell ein Spiegelbild der Gesellschaft darstelle. Wenn das nicht der Fall sei, müsse nach den Ursachen gesucht und die zu große Homogenität, etwa bei der Neubesetzung von Stellen, überwunden werden.

Damit eine Verankerung von Diversitätssensibilität in Bildungseinrichtungen besser gelingen kann, stellte Fereidooni eine Reihe von Maßnahmen vor, um einer in weiten Teilen hochgradig motivierten Lehrer:innenschaft sowohl im schulischen Alltag als auch in der Ausbildung Hilfestellungen an die Hand zu geben. Es brauche strukturell verankerte Mentoring-Prozesse, Codes of Conduct für alle an Schule Beteiligte, Beschwerdestellen gegen Diskriminierung, Verbündete und starke Netzwerke, Projektarbeiten und Projektwochen sowie Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Als wichtigste, aber am schwierigsten umzusetzende Maßnahme nannte Fereidooni die Abschaffung der frühzeitigen Selektion der Lernenden nach der Grundschule. Statt einer Vielzahl weiterführender Schulen plädiert er für die Einrichtung einer einzigen inklusiven Schulform mit unterschiedlichen Lern- und Bewertungsformen. Auch müssen der Anteil an Ganzheitsschulen weiter ausgebaut und Lehrer:innen weiter entlastet werden. Diese sollten nicht mehr als 15 Stunden in der Woche unterrichten, während auch Klassengrößen weiter reduziert werden sollten. Die Basis aller Diversitätsstrategien sei laut Fereidooni jedoch eine angemessene Ausstattung mit Geld, Zeit und personellen Ressourcen. 

Gute Bildung für alle

© dkjs/Jörg Farys

Anne Rolvering, Geschäftsführerin der DKJS, schilderte im anschließenden Vortrag unter dem Titel „Greifen nach den Sternen“ ihre Bildungsutopie. Aus dem Jahr 2053 blickt sie auf drei Jahrzehnte geglückte Bildungsevolution zurück: Von einem System mit ausgepowerten Einrichtungen, gravierenden Ungleichheitsfaktoren und Negativschlagzeilen habe sich Bildung durch eine Kultur der ambitionierten Veränderung in diesem Zeitraum vollständig gewandelt. Anstoßkugel sei die Einladung von Bundespräsident Steinmeier an 200 Schüler:innen gewesen, die das Schloss Bellevue für zwei Tage übernommen und dabei ihre Wünsche an Schule und Bildung formuliert haben. Diese lauteten: Teilhabe, Digitalität und diskriminierungsfreie Bildungseinrichtungen, die Vielfalt respektieren und unterstützen. Die Wünsche wurden als Impuls für eine Bildungszeitenwende an alle Regierungsebenen gesandt – anschließend ging es mit Kraft, Energie und Fantasie an die Umsetzung.

Eine verbindliche Gesamtstrategie für Veränderung mit gleichen Spielregeln für alle und Platz für lokale Besonderheiten wurde vereinbart. Viele Best Practice-Beispiele machten Praktiker:innen zu Mutmacher:innen, während Diversität als Querschnittsthema anerkannt wurde. So wurde mit großer Beteiligung, Handlungsmut und dem Streben nach Wandel die Bildung in Deutschland Schritt für Schritt umgebaut.

© dkjs/ Jörg Farys

„Ich habe drei Wünsche für die Schulentwicklung bis 2050. Erstens soll ein gesamtgesellschaftliches Ziel für Teilhabe formuliert werden. Zweitens brauchen wir für eine Kultur der Veränderung gelingende Beispiele und viele Mitmacher- und Ermöglicher:innen. Damit – drittens – Schulen Orte der sozialen Integration werden.“

Anne Rolvering
Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung

Zurück im Jahr 2023: Wie Anne Rolvering betont, zeige ein Projekt wie „Vielfalt entfalten“ sehr eindrücklich, dass Visionen funktionieren können. Denn wie die Rückmeldungen aus den letzten vier Projektjahren belegen, ist die Wahrnehmung für Diskriminierungen an den beteiligten Schulen gewachsen, die Bedenken gegenüber einer datengestützten Schulentwicklung sind gesunken und die Zusammenarbeit auf allen Ebenen wurde gestärkt. Nun ginge es darum, den Weg mutig weiterzugehen. Weiterhin müssten Dreamteams aus Politik und Zivilgesellschaft gebildet werden, um Diskriminierung an Schulen abzubauen und ein wertschätzendes Handeln zu begünstigen.

Best Practices und perspektivische Handlungsmöglichkeiten

Workshop 1: Bereitstellung und Unterstützung von Onlinebefragungen für eine datengestützte, diversitätsbewusste Schulentwicklung – Chancen und Herausforderungen

Vor einem hochmotivierten Plenum berichteten die Hamburger Diversitäts- und Monitoringexperten Ralf Schattschneider und Faried Ragab von den wertvollen Erkenntnissen, die Onlinebefragungen zu diversitätsorientierter Schulentwicklung liefern. Am Beispiel von Hamburg, wo Befragungen an Schulen durchgeführt wurden, zeigte sich, dass das Wissen für Diversitätsthemen ebenso gestiegen ist, wie auch die Motivation der Schulleitungen, sich damit zu beschäftigen. Auch eine stärkere Sensibilisierung im Kollegium sei zu beobachten. Über die Entstehung des Fragebogens, dessen Inhalte und Merkmale berichteten die beiden Referenten ausführlich und gingen dabei auf interessierte Nachfragen des Plenums ein. Wichtige Achtungszeichen, die es bei der Umsetzung und Verwendung von Befragungstools zu beachten gilt, wurden durch die Referenten aufgegriffen. So sei es beispielsweise zentral, eine breite Akzeptanz und Unterstützung für das Vorhaben im Schulkollegium zu sichern und planvolle, transparente Kommunikationswege zu etablieren. Auch betonten die beiden Referenten, dass Datenerhebungen zur Unterstützung von Diversitätsentwicklungsprozessen gut und professionell begleitet werden müssten. Denn wenn nicht klar sei, zu welchem Zweck Daten konkret erhoben würden, stelle sich schnell ein Gefühl der Verlorenheit angesichts nicht verwertbarer Informationen ein.

Workshop 2: Gerechte Schulen als lernende Organisationen: Die Rolle der Bildungsverwaltung

Auf Basis aktueller Studien und ihrer Erfahrungen als Schulberaterin schilderte Referentin Dr. Rita Panesar Formen struktureller Diskriminierung im Schulalltag und ihren Ursachen. Außerdem stellte sie diversitätsbewusste und antidiskriminierende Methoden wie den Anti-Bias-Ansatz vor. Dieser soll helfen, ein starkes Selbstbewusstsein ohne Überlegenheitsgefühl zu entwickeln, ein kritisches Denken über Vorurteile anzuregen, unfaire Äußerungen und Verhaltensweisen zu erkennen und Missstände offen anzusprechen. In kleinen, gemeinsamen Schritten gehe es darum, diskriminierende Verhaltensweisen abzubauen. Die Rolle der Schulverwaltung wird in diesem Prozess, der dem Umbau eines fahrenden Zuges gleicht, nicht als administrativ, sondern vorrangig als unterstützend aufgefasst. Durch Monitoring und Diagnosen soll sie zur Bestandsaufnahme der Situation beitragen, Ziele setzen, Maßnahmen gegen Segregation entwickeln sowie Beratungs- und Weiterbildungsangebote zur Verfügung stellen.

In produktiver Atmosphäre bemühten sich im Anschluss fünf Gruppen von fünf bis sieben Personen, erste kleine Schritte von der Utopie zur konkreten Umsetzung zu gehen. Hierfür gelte es, neue Instrumente – allen voran eine gemeinsame Sprache der Prozessbeteiligten und regelmäßige Termine zum Austausch – zu finden. Schulleitungen und Pädagog:innen sollten von administrativen Tätigkeiten entlastet werden. Ziele, die definiert werden, sollten auf allen Ebenen erreichbar sein, wofür es einer gute Mischung von Bottom-up- und Top-Down-Prozessen bedürfe. Zudem müsse die Entwicklung mit Ressourcen ausreichend unterstützt und der Weg als Ziel verstanden werden.

Workshop 3: Nicht erst dann, wenn's brennt – Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung am Beispiel der Berliner Feuerwehr

Dana Morzinek, Gruppenleitung Personalauswahl und Personalentwicklung der Berliner Feuerwehr, berichtete im dritten Workshop über die Anfänge des diversitätsorientierten Organisationsentwicklungsprozesses bei der Berliner Feuerwehr – eine Organisation, die personell noch immer weiß und männlich geprägt ist. In einem extern begleiteten Prozess ging es zunächst darum, das Personalkonzept diversitätsorientierter zu gestalten und zu erneuern, um dringend benötigtes Personal akquirieren zu können. Der Anlass zur Neuorientierung war vor allem der Notwendigkeit geschuldet und führte auch zu gewissen Widerständen, die jedoch nach und nach überwunden wurden. Wie die Referentin betonte, brauche es Mut, um neue Personalstrukturen zu implementieren – „einfach machen“ sei aber auch in hierarchischen Behörden möglich. Als erste Schritte stellte sie etwa die Änderung der Stellenausschreibung in einfacher Sprache vor sowie die aktive Aufforderung zur Bewerbung von Menschen, die strukturell diskriminiert werden. Zudem wurden erstmals Schulungen für Führungskräfte zu Diversitätsthemen angeboten und Beschwerdestellen eingerichtet. Während der engagierten Workshopdiskussion wurden viele Parallelen zu diversitätsorientierten Entwicklungsprozessen im Bildungssystem hergestellt und mit dem Transfer in den eigenen Tätigkeitsbereich begonnen. Eine Teilnehmerin fasste zusammen: „Ich habe hier einen Pioniergeist und eine ‚Macherhaltung‘ gespürt, das hat mich sehr inspiriert.“

Workshop 4: „Was tun, wenn …?" Beschwerdeverfahren an Schulen

Klare und funktionierende Beschwerde- und Interventionsstrukturen dienen dem Schutz und der Beratung aller an Schule Beteiligten und fördern eine diskriminierungskritische und diversitätsorientierte Schulkultur. Dennoch gibt es in Hinblick auf ihre Einführung Berührungsängste, so dass Beschwerdeverfahren im Schulsystem noch keineswegs flächendeckend etabliert sind. Referentin Olenka Bordo Benavides, Leiterin der Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg, veranschaulichte, wie die Zusammenarbeit mit Akteur:innen im Feld ausgestaltet werden kann. Um Beteiligte und Einrichtungen im Bildungsbereich dabei zu unterstützen, diskriminierungskritische Prozesse auf den Weg zu bringen und langfristig einen angemessenen professionellen Umgang mit diskriminierenden Vorfällen zu erreichen, kooperiert sie mit Schulen und Verwaltungen, initiiert Vereinbarungen und Beratungen und gibt Handlungsempfehlungen. Zu ihrer Zielgruppe gehören Akteur:innen des gesamten Bildungsbereichs. Über ihre Stelle soll Kindern, Jugendlichen und Familien außerdem ein niedrigschwelliger Zugang zu den Angeboten ermöglicht werden. Bundesweit gibt es bisher wenig ähnliche Ansätze für ein funktionierendes Beschwerdemanagement – die notwendige gute Praxis muss hier großteils noch erfunden werden. In der Arbeitsphase fand ein angeregter Austausch zur Umsetzung im eigenen Arbeitsbereich statt. Ein professionelles, diskriminierungskritisches Handeln der Verwaltung, bezogen auf Diskriminierung in Schulen, wurde ebenso diskutiert, wie die Notwendigkeit von zu verzahnenden diskriminierungskritischen Ansätzen und Angeboten. Aber auch die Bereitstellung von Fortbildungsgeldern für Lehrkräfte und Akteur:innen der Bildungsverwaltung, die Sensibilisierung fördern sollen, wurde anregend diskutiert.

In der abschließenden Diskussion im Fischbowl-Format wurden die Ergebnisse der Workshops präsentiert. Auch wurden der Wunsch und Wille zum Ausdruck gebracht, am Erreichten „dran zu bleiben“ und den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wie Mariam Ahmed, Projektleiterin bei der Stiftung Mercator, dabei zusammenfasste, können Dreamteams entstehen, wenn sich Führungspersonen Diversitätsthemen auf die Fahnen schreiben und die vor Ort arbeitenden Praktiker:innen unterstützen. Zentral für das Vorankommen seien Austausch, Vernetzung und gemeinsame Organisationsentwicklung.

Zum Seitenanfang