#moinVIELFALT:

Vielfältige Schüler:innenschaft, einseitige Leistungsüberprüfungen?

Möglichkeiten und Chancen diversitätssensibler Prüfungsformate

Lerntagebücher, Portfolios oder Open-Book-Prüfungen – dies sind nur einige der vielfältigen Beispiele alternativer Prüfungsformate in der Theorie. Es existieren zunehmend Vorhaben zur diversitätssensiblen Unterrichtsentwicklung, die auf diverse unterrichtliche Kernbereiche abzielen. Leistungsüberprüfungen und -bewertungen bleiben dabei jedoch oft unberührt. Welchen Stellenwert haben Leistungsüberprüfungen im Kontext von Diversität und Diskriminierung? Wie können Lehrkräfte im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch eines diversitätssensiblen Unterrichts einerseits und der Notwendigkeit von Leistungsüberprüfungen andererseits agieren? Und welche Handlungsspielräume bietet die Unterrichtspraxis in Hamburg?


An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beschäftigt sich Dr. Laura Fuhrmann mit Hausaufgabenpraxen, Leistungsbewertungen und Ethnografie. In der sechsten Veranstaltung des digitalen Austauschformats #moinVIELFALT bot sie den Teilnehmenden Einblicke in ihre Arbeit zum Thema „Diversitätssensible Prüfungsformate“. Dabei kamen die rechtlichen Rahmenbedingungen der Leistungsbewertung in Hamburg, Spannungsfelder und Herausforderungen diversitätssensibler Prüfungsformate sowie konkrete Praxismodelle zur Sprache.  

"Notenvergabe ist eine ‚never ending story‘." 

Mit dieser Aussage einer Teilnehmerin lässt sich die Veranstaltung zusammenfassen. Dass Leistungsüberprüfungen als Kernbereich des Lehrberufs jedoch auf vielfältige Weise erfolgen können, zeigte Laura Fuhrmann zunächst anhand der rechtlichen Rahmenbedingungen in Hamburg. Diese fordern regelmäßige Lernbeobachtungen ein. Dabei können sowohl schriftliche, praktische und sonstige Leistungen berücksichtigt werden. Fuhrmann bemerkte, dass trotz dieser Gestaltungsmöglichkeiten oft schriftliche Überprüfungen im Vordergrund stehen. Zudem würden zulässige Zeugnisformen wie Lernentwicklungsberichte oder Punktbewertungen seltener genutzt und stattdessen klassische Notenzeugnisse eingesetzt. Die Referentin fasst zusammen: „Auch wenn die Rahmenbedingungen zuweilen sehr starr erscheinen, lassen sich durchaus auch Freiräume wahrnehmen oder realisieren.“

Dazu ist eine dahingehende Überprüfung, an welcher Stelle sich diese einräumen lassen und welche Formate sich individuell anbieten, nötig. Eine diversitätssensible Prüfungskultur geht dabei mit Spannungsfeldern einher. So findet sich einerseits der Anspruch einer gleichberechtigten Teilhabe und Anerkennung unterschiedlicher Leistungsfähigkeit in der inklusionsorientierten Schule, der Schüler:innen auch im Kontext von Leistungsüberprüfungen Partizipation und individualisierte Zugänge gewährt. Dies steht jedoch andererseits gesellschaftlichen Leistungsprinzipien entgegen: So wird Schule auch eine Selektions- und Allokationsfunktion zugesprochen. Damit ist gemeint, dass Schüler:innen leistungsbezogen eingeordnet und über diese Einordnungen gesellschaftliche Positionen zugewiesen werden. Dieses funktionale Leistungsprinzip läuft den emanzipatorischen Aufgaben und der Inklusionsfunktion von Schule oft zuwider und erschwert die Umsetzung einer diversitätssensiblen Leistungsbewertung.    

Die Referentin forderte deshalb, die pädagogischen Funktionen der Leistungsbewertung zu stärken. Dabei stehen Information und Rückmeldung, die Anleitung der Schüler:innen, Verantwortung für den eigenen Lernprozess und selbständige Entscheidungen sowie Bestandsaufnahmen und Prognosen im Vordergrund. Maßgeblich ist hier eine individuelle Bezugsnorm, bei der jeweils die Schüler:innenbiografie als Ausgangspunkt der Leistungsentwicklung betrachtet wird. Dabei sind folgende Achtungszeichen zu berücksichtigen: 

  1. In Schule und Unterricht wirken verschiedene Differenzlinien, anhand derer Schüler:innen unterschieden werden.  
  2. Da diese Unterscheidungsprozesse oft unterbewusst oder indirekt erfolgen und sich überschneiden, kann es passieren, dass soziale Unterscheidungen (wie z.B. Zuschreibungen anhand Annahmen von „Migrationshintergründen“) mit Leistungsbeurteilungen verwoben werden. Dadurch entsteht das Risiko von Benachteiligungen und Exklusionsprozessen. So werden Leistungsbewertungen zu einem Mechanismus der institutionellen Diskriminierung. 

  3. Der Diversitätsansatz kann dabei helfen, jene Unterscheidungsprozesse in ihrer Eingebundenheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse zu erkennen und zu hinterfragen. Die resultierenden Erkenntnisse können eingesetzt werden, um Diskriminierung durch gezieltes inklusionsorientiertes Handeln entgegenzuwirken. 

Empfehlungen: Diversitätssensible Prüfungsformate

Fuhrmann schlägt folgende Prüfungsformate vor, in denen sich der Diversitätsansatz stärker realisieren lässt: 

Der Impulsvortrag von Dr. Fuhrmann wurde aufgezeichnet und steht Ihnen nachfolgend zur Verfügung:

Literatur- und Materialempfehlungen:


Über die Referentin: 

Dr. Laura Fuhrmann ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Schulforschung/Schulpädagogik des Arbeitsbereichs Heterogenität und Ungleichheit an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig. Sie promovierte zum Thema „Hausaufgaben im Unterricht. Ethnographie eines schulischen Entgrenzungsphänomens.“ und beschäftigt sich mit den Forschungsschwerpunkten Hausaufgabenpraxis, Schulische Leistungsbewertung und Ethnografie. Eine Übersicht zu Fuhrmanns Publikationen finden Sie hier: Dr. Laura Fuhrmann | AG Schulforschung/ Schulpädagogik (uni-mainz.de) 

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