Sprachräume schaffen: Ein Blick nach Irland

Wie sich Mehrsprachigkeit auf diversitätssensible Schulentwicklung auswirkt

Sprachen öffnen bekanntlich viele Türen – in den meisten Klassenräumen hierzulande darf aber bis heute nur Deutsch gesprochen werden. Der falsche Ansatz? Ob und wie sich Mehrsprachigkeit auf diversitätssensible Schulentwicklung auswirkt, welche positiven Beispiele es in anderen Ländern gibt und wie sich diese auf Schulen hierzulande übertragen lassen, beleuchteten im November 2022 die Teilnehmer:innen der digitalen Lernreise, ein gemeinsames Angebot von „Vielfalt entfalten“ und „LiGa – Lernen im Ganztag“, gefördert von der Stiftung Mercator. Schulleitungen und Lehrkräfte reisen bei dem digitalen Format in verschiedene Länder und erhalten dort virtuelle Schuleinblicke sowie spannende Impulse aus Unterstützungssystemen und Wissenschaft.


„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“, erkannte schon Goethe. Und doch liegt, nicht nur in Schulen in Deutschland, der Fokus fast immer auf der Landes- oder Zielsprache, insbesondere im DAF-/DAZ-Bereich. Die Argumente und Motive sind vielschichtig: Oftmals sind es didaktischen Methoden, an denen es fehlt, oder die Unsicherheiten der Lehrkräfte, die den Umgang mit Sprache im Unterricht beeinflussen. Eine weitere gängige Begründung ist zudem auch, dass niemand durch fremde Sprachen in der Klasse beeinflusst werden soll. Doch vor allem für Schüler:innen mit Migrationsgeschichte ist die eigene Herkunftssprache und Kultur oft ein wichtiger Rückhalt – und die neue Sprache häufig ein zusätzlicher Stressfaktor.

Wie halten es andere Zuwanderungsländer? Und welche Good-Practice-Beispiele gibt es dort? Während der Lernreise richteten die Teilnehmenden den Blick nach Irland, wo sich seit einiger Zeit spannende Entwicklungen und wichtige Impulse beim Thema Mehrsprachigkeit beobachten lassen. Im Gespräch mit Peers und Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis erfuhren sie mehr über die dortigen Ansätze und diskutierten Hindernisse sowie Potenziale von Mehrsprachigkeit im Schul- und Unterrichts-geschehen. Auch tauschten sie sich zur Lage im deutschen Schulalltag aus, beleuchteten die gewonnenen Erkenntnisse, Erfahrungen und Ideen aus Irland und identifizierten Bedingungen, um diese erfolgreich in die eigene Arbeit einfließen zu lassen.

Reisetag 1: Mehrsprachigkeit und ihre Vorteile aus Sicht der Forschung

Erste Station nach der Landung der virtuellen Reisegruppe in Irland war die Zusammenkunft mit zwei Expert:innen im Bereich Mehrsprachigkeit im Unterricht. Dr. Déidre Kirwan ist ehemalige Schulleiterin der Scoil Bhríde (Cailíni) in Dublin und seit 2008 Europäische Botschafterin für Sprachen. Prof. David Little leitete unter anderem die School of Linguistic, Speech and Communication Sciences am Dubliner Trinity College.

Beide unterstrichen in ihrem gemeinsamen Vortrag „Eine Schule, fünfzig Sprachen – von der Mehrsprachigkeit zum Bildungskapital“ die große Bedeutung der Herkunftssprache. Diese sei nicht nur wichtig für die Identität und das Selbstkonzept von Kindern und Jugendlichen, es sei vor allem unmöglich, sie zu unterdrücken. Kurzum: Plurilinguale Schüler:innen würden am besten lernen, wenn sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen nutzen könnten, so die beiden Expert:innen. Daher sollten Sprachregelungen offen gehalten und Herkunftssprachen zugelassen werden, etwa in Gruppenarbeiten und als kognitives Werkzeug des Lernens.

Wichtige Signale durch Körpersprache

Dr. Kirwan erklärte die besonderen Bedingungen an der Scoil Bhríde, wo Englisch die Unterrichtssprache ist: „2014/15 stammten 80 Prozent der Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. An unserer Schule gab es zu dieser Zeit 51 verschiedene Muttersprachen – von denen die meisten den Lehrenden unbekannt waren.“ Umso wichtiger sei es daher für Lehrende, zum Beispiel durch Körpersprache Wohlwollen und Wertschätzung zu signalisieren, wenn sich Kinder ihrer Herkunftssprache bedienen.

Diese erfülle laut Dr. Kirwan und Prof. Little wichtige Funktionen:

  • Sie fördere die Kommunikation zwischen Kindern mit gleicher Muttersprache, etwa auf dem Schulhof;
  • Sie helfe beim Erlernen anderer Sprachen und
  • das intuitive Sprachwissen bereichere den Lehrplan und inspiriere Dritte.

So hätten Schüler:innen autodidaktisch weitere Sprachen wie Spanisch gelernt oder ein Tagebuch auf Irisch begonnen – was auch die große Bedeutung der Schreibfertigkeiten belegt. Die mehrsprachige Scoil Bhríde schneide im Übrigen, so Prof. Little, in allen Tests zum Sprachwissen in Irisch, Englisch und Französisch besser ab als der nationale Durchschnitt.

Reisetag 2: Das TEAL-Projekt – Praxis-Initiative mit guter Netzwerkarbeit

Wie lassen sich Potenziale fürs Sprachenlernen – in diesem Fall Englisch – nutzen, zugleich aber die Herkunftssprachen bewahren? Und vor allem: Wie schaffen Lehrkräfte schulübergreifenden Austausch und Vernetzung? Ein solches Beispiel stellt das TEAL-Projekt („Transforming Education through Dialogue“ für Englisch-Lerner:innen) dar, das den Teilnehmenden am zweiten Reisetag vorgestellt wurde.

Mit großer Leidenschaft berichteten Projektleiterin Dr. Fiodhna Gardiner-Hyland und ihre Kolleginnen Tracy Tobin und Margaret Grace über ihre Erfahrungen in dem Projekt. Das Besondere: Die Impulse zur Weiterbildung bzw. zur späteren Arbeit als Multiplikator:innen gingen von den Lehrkräften selbst aus. Acht Grundschulen und zwei weiterführende Schulen in Limerick sind inzwischen vernetzt. Ausgangspunkt waren der demografische Wandel und die Zuwanderung: In einigen Schulen hat über ein Drittel der Kinder eine andere Muttersprache als Englisch. So entstand der Wille, andere Sprachen und Kulturen aktiver willkommen zu heißen – Notwendigkeit und Herausforderung zugleich. Seit 2019 fördert der Lehrplan ein inklusives Klassenzimmer. So lassen sich dank TEAL die Herkunftssprachen ganz offiziell aktiv im Klassenzimmer integrieren und Schüler:innen auch außerhalb der Schule darin fördern.

Bühne frei für viele Sprachen

Wie fördern die irischen Schulen Mehrsprachigkeit im Rahmen des TEAL-Projekts ganz konkret? Zu den vielen positiven Maßnahmen an den Schulen zählen zweisprachige Lehrbücher und Bücher, die sich Kinder mit ihren Eltern ausleihen können. Das verbesserte zugleich die Elternarbeit, ebenso eine mehrsprachige Elterninformation. Neben Willkommensplakaten in allen vorhandenen Herkunftssprachen, Ausstellungen von Kindern in ihrer Herkunftssprache kamen auch „Internationale Tage“ sehr gut an. Beeindruckt waren die Teilnehmer:innen der Lernreise auch von einem „Schuhkarton-Projekt“: Hier haben Kinder alles hineingepackt, was sie wichtig finden, um sich und ihre Herkunft zu beschreiben.

In der abschließenden Diskussion verwiesen die irischen Kolleginnen nochmals auf die große Bedeutung der Wertschätzung gegenüber Schüler:innen und ihren Leistungen. Zugleich – und mit Rückblick auf die eigenen Erfahrungen – gaben die drei der Reisegruppe den Rat, kleine Schritte zu gehen, immer das Positive zu sehen, Mitstreiter:innen zu finden und sich auch externe Unterstützung zu suchen, etwa zum Sponsoring von Büchern.

Reisetag 3: Wissenschaftsblick – Wo steht Deutschland beim Thema Mehrsprachigkeit?

Mit spannenden Erkenntnissen aus Irland im Gepäck, widmete sich die Reisegruppe am dritten Tag der Lernreise dem Stand der Dinge hierzulande. Wichtige Einblicke gab dazu Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ingrid Gogolin. Die Professorin für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Uni Hamburg zeichnete ein eher nüchternes Bild: Eine systematische Einbindung von Herkunftssprachen gebe es in Deutschland nicht, so die Expertin. Einzig Brandenburg arbeite aktuell an einem Mehrsprachigkeitskonzept. Sie berichtete außerdem über „Success for all“, ein erfolgreich evaluiertes Modell aus den USA, das aber für Europa adaptiert werden müsste, da es nur auf Englisch läuft. In Deutschland gebe es das Modell der „Durchgängigen Sprachbildung“, hier fehle es aber noch an Kooperation und Vernetzung zum Aufbau.

Kognitive Entlastung schaffen

Wie die Expertin in ihrem Vortrag aber auch betonte: Die Benutzung der Herkunftssprache, etwa in vorher abgesprochenen Zeitfenstern für die Gruppenarbeit, reduziere die kognitive Belastung. Am Beispiel des Matheunterrichts wurde in einem Versuch deutlich, dass hier die Möglichkeit, sich mit anderen Muttersprachler:innen über ein Problem auszutauschen, nachweislich Entlastung schaffe.

In der anschließenden Diskussion war sich die Gruppe darin einig, dass Herkunftssprachen aus ihren Nischen geholt werden müssten. Voraussetzung sei jedoch, Vorbehalte der Lehrkräfte abzubauen. Diese hätten oft Angst vor Kontrollverlust, weil sie die Schüler:innen nicht verstehen, wenn diese in ihrer Herkunftssprache reden. Sich dieser Unsicherheit zu stellen und die Potenziale zu erkennen – statt immer nur einen defizitären Blick auf Herkunftssprachen zu richten – seien wichtige Grundvoraussetzungen für einen Einstieg. Allerdings seien auch eine stärkere Unterstützung durch die Bildungspolitik und entsprechende Informationen und Materialien wichtige Voraussetzungen.

Reisetag 4: Chancen der Umsetzung

„Was nehme ich mit? Welche Ansätze oder Maßnahmen sind für mich denkbar?“ Am letzten Tag der Reise, der dem Blick auf die eigenen Möglichkeiten galt, waren sich die Teilnehmenden einig: Die Lernreise bot jede Menge Denkanstöße. Nicht nur der Rat, mit kleinen Schritten anzufangen, sondern auch konkrete Ideen – wie das Willkommensplakat oder zweisprachige Bücher – fanden regen Anklang, um diese in die eigene Praxis zu übernehmen. Einige Teilnehmende erklärten indes, dass sie eigene didaktische Wege einschlagen wollen, etwa Lernende in DAZ-Kursen über Hip-Hop-Texte oder durch gemeinsames Singen besser zu erreichen. Auch die Nutzung von Übersetzungs-Apps auf dem Smartphone möchten einige Teilnehmenden zulassen und befördern.

Handlungsspielräume erkennen

Ein Teil der Reisegruppe nahm sich abschließend vor, das Gespräch mit dem Kollegium und sogar der Schulleitung zu suchen und sich in Zukunft für Weiterbildungsmöglichkeiten einzusetzen. Auch die Gastgeber:innen aus Irland hatten sich für einen weiteren Austausch angeboten. Bei all dem gilt: mit Selbstvertrauen vorangehen und den eigenen Handlungsspielraum erkennen. Und bei kritischeren Kolleg:innen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Sprache Teil des Menschseins ist – selbst wenn sie ignoriert wird.

Zum Seitenanfang