Praxiseinblick:

"Ohne die Reflexion eigener Haltungen ist eine diskriminierungskritische Praxis nicht möglich"

Julius Rulik ist Diversitätsbeauftragter der BS30 - Fröbelseminar - in Hamburg, die am 12. Mai 2022 ihre Pädagogische Jahreskonferenz zu den Themen Vielfalt und Soziale Gerechtigkeit durchgeführt hat. Mit welcher Motivation diese ausgerichtet wurde, welche Erkenntnisse der Tag brachte und was nun geplant ist, erklärt er im folgenden Interview.


Die Kolleg:innen im Austausch © Matthias Graz
© Matthias Graz
Die Kolleg:innen im Austausch © Matthias Graz

Über 90 Kolleg:innen der BS30 - Fröbelseminar - kamen bei der Pädagogischen Jahreskonferenz Mitte Mai in Hamburg zusammen. Verschiedene Impulse und Workshops brachten sie dabei in einen intensiven kollegialen Austausch, regten die Reflexion über eigene Denk- und Handlungsmuster an und förderten Ideen für die weitere gemeinsame Arbeit an einer diversitätsbewussten und diskriminierungskritischen Schulentwicklung. An der Konzeption, Vorbereitung und Durchführung beteiligt war Julius Rulik, Diversitätsbeauftragter der Schule. Wie er den Tag wahrgenommen hat und welche konkreten Maßnahmen nun geplant sind, schilder er im folgenden Gespräch. 

Mit welcher Motivation haben Sie die Pädagogische Jahreskonferenz ausgerichtet und warum die Themen Vielfalt und Soziale Gerechtigkeit?

Julius Rulik: Am Anfang steht die Einsicht, dass ich als Lehrkraft diskriminierende Strukturen unreflektiert reproduziere, trotz bester Absichten. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass das Bildungssystem von Chancengerechtigkeit und -gleichheit weit entfernt ist und Schule bestehende Ungerechtigkeiten teils verstärkt. Das kann an fehlendem Wissen über Unterstützungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten liegen, oft aber auch an fehlenden personellen oder zeitlichen Ressourcen. Wie groß beispielsweise der Bedarf an Schulsozialarbeit ist, wird besonders deutlich, seit wir eine Stelle dafür haben. Da übersteigt die Nachfrage das Angebot. Viele Schüler:innen mit großem Potenzial, viel Motivation und besten Vorsätzen können ihre Ausbildung nicht beenden. Die Geschichten dazu sind sehr unterschiedlich, sehr oft sind sie von gesellschaftlichen (intersektionalen) Diskriminierungen betroffen. Das bedeutet, dass wir gemeinsam klären müssen, wie wir mit Diskriminierungserfahrungen von Schüler:innen umgehen. Wie können wir betroffene Schüler:innen stärken? Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, um das gemeinsam zu reflektieren und zu einer angemessenen Praxis zu kommen? Das ist besonders relevant, da die Absolvent:innen später mit Kindern arbeiten und daher selber vor der Herausforderung stehen, im Bildungssystem auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Diskriminierungen zu treffen und die Praxis (hoffentlich) zum Besseren für die Kinder entwickeln.

Als gemeinsamen Start wählten wir die Pädagogische Jahreskonferenz um Sensibilität für und gemeinsames Verständnis von Diversität zunächst innerhalb des Kollegiums zu entwickeln. Ohne die Reflexion eigener Haltungen und die Bedeutung für das pädagogische Handeln („Soziale Gerechtigkeit“ im Umgang mit Diversität) ist eine diskriminierungskritische Praxis nicht möglich. Ziel war es, erste Ideen für nächste Handlungsschritte, Maßnahmen und Umsetzungsmöglichkeiten in den Workshops formulieren zu können. 

Was sind Ihre persönlichen Erkenntnisse des Tages?

JR: Der Tag hat gezeigt, dass wir ein engagiertes Kollegium und eine sehr unterstützende Schulleitung haben, die einer diskriminierungskritischen Schulentwicklung gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Der Bedarf wird regelmäßig artikuliert und die Fragen sind von Einzelnen schon bearbeitet worden. Nun gilt es, die noch vereinzelten Ansätze zu bündeln. Eine diskriminierungskritische Schulentwicklung ist ein Kraftakt für alle Beteiligten und bedarf langfristiger, kontinuierlicher Arbeit auf allen Ebenen der Schule. Das erfordert Selbstreflexion, den Umgang mit (eigenen) Widerständen, viel Koordination – beispielsweise zwischen den Fachgruppen – und einer Weiterentwicklung auf Ebene der Lernfelder und der didaktischen Semesterpläne. Ebenso gilt es, Materialien bewusst zu sichten und zu überarbeiten. Die eigentliche Arbeit beginnt also erst. 

Worin liegen Ihrer Ansicht nach aktuell noch die größte Herausforderung für das Kollegium, wenn es um Diversität und Diskriminierung im schulischen Alltag geht?

JR: Die Frage für alle zu beantworten, fällt mir schwer. Schulentwicklung ist ein Thema, dass alle Kolleg:innen betrifft und an dem auch alle gemeinsam beteiligt sind. Im Alltag besteht tendenziell ein Widerspruch zwischen fachlichem Anspruch der Berufsausbildung und den Hemmnissen, diesen Ansprüchen zu genügen – unter anderem durch Diskriminierungserfahrungen. Für die Schüler:innen sind die Erfahrungen konkret, uns Lehrkräften teilt sich das nicht immer mit. Dafür braucht es Feingefühl und fachliches Wissen. Diese Erfahrungen zu bearbeiten, ist alles andere als trivial. Oft übersteigt es jedoch die Möglichkeiten der einzelnen Lehrkräfte. Gelingt es ihnen doch, kann diese Erfahrung bestenfalls als fachliche Ressource für die Arbeit im Sozialen genutzt werden. Den Raum und die Anerkennung dafür würde u.a. gezielte Empowerment-Arbeit gewährleisten, da stehen wir meines Erachtens aber noch ganz am Anfang.

Nachdem die Konferenz nun stattgefunden hat: Wie geht es jetzt weiter? Was ist geplant, um die Themen weiter zu vertiefen? 

JR: Das nächste konkrete Vorhaben ist die Durchführung der Themenwoche zum Thema Vielfalt. In Vorbereitung darauf hat das Kollegium bereits erste Fortbildungen erhalten. Gemeinsam mit den Schüler:innen setzen sich die Lehrkräfte während der Woche mit verschiedenen Vielfaltsdimensionen auseinander. Geplant ist auch eine Vortragsreihe. Des Weiteren widmen wir uns verstärkt dem Thema Partizipation als Teil einer diskriminierungs-kritischen Schulentwicklung: Was brauchen die Schüler:innen unserer Schule? Welche Interessen und Bedarfe gibt es? Auch das Thema Leitbild steht weiter im Fokus. Eine Qualitätsentwicklungsgruppe der Schule arbeitet gemeinsam mit der Schulleitung daran, Diversität noch stärker im Leitbild zu verankern und zu schauen, welchen Ansprüchen wir uns bereits stellen und welche noch folgen. Für die schulübergreifende Neugestaltung des Curriculums steht darüber hinaus eine Neustrukturierung der Lernfelder an. Dabei sollen die Themen Diversität und Diskriminierung noch stärker implementiert werden. Und auch mit Empowerment werden wir uns noch intensiver auseinandersetzen und insbesondere unsere jüngste Schüler:innengruppe an der Berufsfachschule in den Blick nehmen. 

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