„Lehrende tragen eine große Verantwortung, die neben den Herausforderungen, die mit ihr einhergeht, auch etwas sehr sinnstiftendes, innovatives und wertvolles ist.“

Ritva Grießig
Expertin für diversitätsbewusstes Lehrer:innenhandeln an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Lernende durch Weise Interventionen stärken

„Jeder Mensch kann in Stress- oder Leistungssituationen ein psychologisches Bedrohungserleben empfinden. Im Schulkontext gibt es jedoch Personen, die einem bestimmten Stereotyp unterliegen, das gesellschaftlich geformt ist. Ob Mädchen im Mathematikunterricht, Schüler:innen, die eine nicht-deutsch gelesene Herkunft mitbringen oder die in einer Familie mit einem niedrigem sozio-ökonomischen Status leben: Jene Personen haben ein doppeltes Bedrohungserleben. Denn sie erleben nicht nur die Angst durch die Leistung, sondern spüren, dass ihnen aufgrund eines Merkmals, das sie mitbringen weniger zugetraut wird, als anderen die dieses Merkmal nicht aufweisen“, so Ritva Grießig. Gemeinsam mit Dr. Mohini Lokhande hat sie in einem Forschungs-Praxis-Projekt Unterrichts-interventionen entwickelt, erprobt und evaluiert, die genau an diesem Bedrohungserleben und den Folgen ansetzen. Die Erkenntnisse aus dem Projekt wurden anschließend in dem Handbuch ‘Weise Interventionen für einen diversitätsbewussten Unterricht. Ein Handbuch für die Lehrer:innenbildung’ gebündelt. Im nachfolgenden Interview gehen wir mit Ritva Grießig, Expertin für diversitätsbewusstes Lehrer:innenhandeln an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg den Fragen nach, was es mit den Weisen Interventionen auf sich hat, wie diese im Unterricht angewendet und Lernende dadurch gestärkt werden können.  

Vielfalt entfalten: Frau Grießig, Sie haben eine Studie und ein Handbuch zum Thema ‘Weise Interventionen’ herausgebracht. Was sind Weise Interventionen? Und an wen richten sie sich und mit welchem Ziel? 

Ritva Grießig: Weise Interventionen setzen an dem Bedrohungserleben bzw. den Ängsten von Schüler:innen an, ebenso an deren Erwartungshaltungen und impliziten Überzeugungen. Gleichzeitig geht es bei den Interventionen des Growth Mindset, also der wachstumsorientierten Grundhaltung, zusätzlich um die Überzeugungen der Lehrer:innen. Bei den Interventionen handelt es sich um punktuelle Strategien, die in Reflexionsprozesse, in den Unterricht oder auch in Feedbackprozesse eingebaut werden können. Dort angewendet, können diese Interventionen eine positive Aufwärtsspirale nach sich ziehen. Ziel ist es, dass die Schüler:innen lernen, dass sie ihre dysfunktionalen Leistungs- und Lernüberzeugungen in funktionale Leistungs- und Lernüberzeugungen transferieren und verändern können und dadurch die Lernmotivation gesteigert werden kann.  

Vielfalt entfalten: In der Studie geht es um stereotype Bedrohungen: Kinder und Jugendliche mit einem bestimmten Merkmal haben Angst, ein negatives Stereotyp zu bestätigen. Welche Auswirkungen hat dieses stereotype Bedrohungserleben auf das Verhalten und die Leistungen von Kindern und Jugendlichen?  

RG: Ein Bedrohungserleben fängt damit an, dass erst einmal eine psychologische und physiologische Reaktion entsteht, die jeder Mensch erleben kann – unabhängig davon, ob dieser Mensch ein Stereotyp mitbringt. Die Reaktion äußert sich zum Beispiel indem diese Person anfängt zu zittern, zu schwitzen, unsicher zu werden oder sich nicht mehr so viel zutraut. Dabei handelt es sich um das psychologische Bedrohungserleben. Das stereotype Bedrohungserleben ist dann eine Sonderform. Es bezieht sich auf Menschen, die ein bestimmtes Stereotyp mitbringen, zum Beispiel Schüler:innen, die als Nicht-Weiß oder Nicht-Deutsch gelesen werden. Die Konsequenzen, die daraus entstehen können, sind weitreichend. Beispielsweise kann es vorkommen, dass in Leistungssituationen zunächst die Leistung reduziert wird, weil das Arbeitsgedächtnis aufgrund der physiologischen Stresssituation nicht den eigenen Kapazitäten entsprechend arbeitet. Bestimmte Fähigkeiten können so nicht mehr abgerufen werden und daraus kann letztlich ein Self-handicapping* entstehen. 

„Schüler:innen mit einem stereotypen Bedrohungserleben haben Angst, dass ihnen weniger zugetraut wird oder haben dies über implizite Erwartungen von Lehrenden schon häufiger erlebt. Diese Angst schränkt ihre eigentlichen Fähigkeiten ein und verändert ihre Leistung.“

Die eigenen Fähigkeiten nicht adäquat abrufen zu können, kann jedoch auch dazu führen, dass Schüler:innen selbstwertdienliche Verzerrungen nutzen, um das eigene Selbstkonzept und ihren Selbstwert stabil zu halten. Bestimmte Bereiche werden dann als unwichtig betrachtet oder es werden gänzliche Herausforderungen vermieden, um sich mit dieser Angst nicht konfrontieren zu müssen. Langfristig kann es passieren, das sich ene Schüler:innen zur Institution Schule nicht mehr zugehörig fühlen, sie ein verringertes Engagement zeigen und all das in einer negativen Leistungsspirale mündet. Schüler:innen, die ein stereotypes Bedrohungsempfinden wahrnehmen, haben ein geringeres Vertrauen in die Autoritäten, die ihnen gegenüberstehen, wie beispielsweise Lehrkräfte. Sie verschließen sich gegenüber leistungsbezogenem, kritischem Feedback, das allerdings wichtig ist, um in Lernprozesse einsteigen zu können.

Vielfalt entfalten: Wie können Lehrkräfte dem entgegenwirken und Lernende stärken?

RV: Um Lernende zu stärken, ist es wichtig, dass sich Lehrkräfte zunächst damit auseinandersetzen, dass ein stereotypes Bedrohungserleben Konsequenzen nach sich zieht. Lehrkräfte als Autoritätspersonen im Lernfeld Schule können diese jedoch über ihre impliziten Erwartungen beeinflussen – sowohl funktional, also in eine positive Richtung, als auch dysfunktional. Lehrende tragen eine große Verantwortung, die aber nicht als eine Belastung gesehen werden sollte, sondern die im Grunde etwas sehr wertvolles ist. Denn Lehrkräfte haben die Möglichkeit zu agieren und etwas positiv zu verändern. Sich dessen bewusst zu werden und proaktiv zu handeln, halte ich für den wichtigsten Ausgangspunkt. Im Anschluss geht es um Reflexion und die Auseinandersetzung mit der eigenen Grundhaltung, den eigenen Stereotypen und Vorurteilen. Wir alle tragen sie in uns, müssen uns mit ihnen aber auseinandersetzen.

Vielfalt entfalten: In dem Handbuch werden zwei Interventionen beschrieben, mithilfe derer Schüler:innen gestärkt werden können. Worum geht es bei der ‘Werteaffirmation’ und ‘wachstumsorientierten Grundhaltung’?

RV: Beide Interventionen helfen dabei, die dysfunktionalen Leistungsüberzeugungen von Schüler:innen positiv zu beeinflussen. Die erste Intervention ist die Werteaffirmation. Diese setzt eher bei den Schüler:innen an und besteht aus einer Schreibaufgabe, die vor einer Klassenarbeit durchgeführt wird, und in der sich die Schüler:innen mit ihren persönlichen Werten auseinandersetzen. Basierend auf einem Comic wählen die Schüler:innen zwei Werte aus – zum Beispiel ‘Familie’ oder ‘Freunde’ und schreiben dazu einen Aufsatz. Es klingt im ersten Moment etwas paradox zur Klassenarbeit, die im Anschluss geschrieben wird, aber es führt eben dazu, dass sich die Schüler:innen vom Stress ablenken, den sie möglicherweise empfinden und so ihre Arbeitsgedächtniskapazitäten freimachen. Dadurch haben sie eine größere Chance, eine bessere Leistung zu erzielen. Das wiederrum wirkt dann auf die Lehrer:innen ein, welche die gesteigerte Leistung wahrnehmen und anschließend positiveres Feedback an die Schüler:innen herantragen, was sich einerseits positiv auf die Lernmotivation der Schüler:innen und im besten Fall auch wieder ins Elternhaus oder in das breitere Schulumfeld überträgt. Dadurch entsteht ein System, das miteinander agiert und sich gegenseitig bedingt.

Im Fall der zweiten Intervention, der wachstumsorientierten Grundhaltung, sind es, neben der Grundhaltung der Schüler:innen, auch die Lehrüberzeugungen der Lehrer:innen, die beeinflusst werden. Die Intervention setzt an den implizierten Überzeugungen zu Intelligenz an. Hier gibt es verschiedene Ansichten, genauer gesagt zwei Gegenpole. Einerseits gibt es die wachstumsorientierte, dynamische Grundhaltung. Die Annahme dabei: Intelligenz ist veränderbar. Das Gehirn funktioniert wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss, um Fähigkeiten und Kompetenzen zu erweitern. Und dann gibt es noch ein statisches Bild von Intelligenz. Dabei wird angenommen, dass Intelligenz festgeschrieben und genetisch festgelegt ist und es keine weiteren Möglichkeiten gibt. Wenn Schüler:innen aus einem Umfeld kommen, das ihnen nicht ausreichend Möglichkeiten bietet, bleiben sie möglicherweise hinter ihrer eigenen Lern- und Leistungsfähigkeit zurück. Wobei man hier anmerken muss, dass bei geringer vorliegenden Ressourcen demnach auch weniger Anknüpfungspunkte vorhanden sind. Dass die Lernleistung sich dann weniger stark steigert, liegt dann aber eben nicht an den neurologischen Grundlagen, sondern an Möglichkeiten, die nicht geboten werden.

„Bei der wachstumsorientierten Grundhaltung wird also grundsätzlich davon ausgegangen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich zu entwickeln, eigene Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern.“

Die wachstumsorientierte Grundhaltung geht außerdem damit einher, dass Lehrkräfte ihren Schüler:innen auch Dinge zutrauen, sie vor Herausforderungen stellen und ihnen vermitteln ‘Ich traue dir das zu. Ich glaube, dass du das schaffst.’ Sich zudem gemeinsam die gemachten Fehler anzuschauen, das ist dabei sehr wichtig. Dabei sollten Lehrkräfte prozessorientiert vorgehen und sich nicht nur darauf beziehen, was Schüler:innen für Noten schreiben. Sondern den Lernprozess über Wochen und Monate genau zu verfolgen und immer wieder prozessorientiertes Feedback zu geben, zum Beispiel in Form des Weisen Feedbacks. 

Vielfalt entfalten: Worum geht es beim Weisen Feedback?


Vielfalt entfalten: Wie lassen sich die Interventionen in die Schulpraxis und insbesondere in Schulentwicklungsprozesse übertragen? Wie können Lehrkräfte dafür geschult werden?

RV: Schule sollte zunächst immer als System betrachtet werden, in dem alle beteiligten Ebenen miteinbezogen werden, um einen Implementierungsprozess auch nachhaltig gestalten zu können. Das betrifft die Schulleitung, Lehrer:innen, weitere Pädagogische Fachkräfte, Schüler:innen aber auch Eltern, die zum Beispiel in Hinblick auf die wachstumsorientierte Grundhaltung informiert werden sollten. Aus meiner Sicht ist es auch sehr ratsam, Kooperationen mit den zuständigen Referaten in den Bildungsministerien einzugehen, um z.B. auch die Implementierung innerhalb der Lehrer:innenbildung nachhaltig zu gestalten. Ein konkretes Beispiel für die Implementierung ist eine Studie, welche wir in Nordrhein-Westfalten durchgeführt haben. Diese Studie sind wir in Kooperation mit dem Bildungsministerium angegangen und haben eng mit einer der Bezirksregierungen zusammengearbeitet. Über diese sind haben wir den Kontakt mit den Schulen aufgebaut. Zunächst haben wir mit den Schulleitungen gesprochen und anschließend mit den interessierten Kolleg:innen. In den Schulen gab es immer eine:n feste:n Ansprechpartner:in, der oder die sich für die Umsetzung verantwortlich gefühlt hat. Dies hat sich als  sehr wichtig für den Umsetzungserfolg herausgestellt. Denkbar wäre auch, eine schulische AG zu gründen, in der die spezifischen Interventionen genau angeschaut und eingeführt werden, ehe sie in die Breite getragen werden. der Studie haben wir es so gestaltet, dass wir einerseits eine Weiterbildung für alle Lehrer:innen eingeführt und darüber hinaus auch regelmäßig Materialien versendet haben. Außerdem haben wir dazu geraten, sich weiter in Studiengruppen zu treffen, um die Inhalte  zu vertiefen. Für das Handbuch haben wir zudem eine Art Projektleitfaden entwickelt, wie eine Schule die Interventionen innerhalb von 5-6 Monaten einführen und umsetzen kann. Um die Interventionen in der Schulpraxis zu verankern, bietet das exemplarische Vorgehen innerhalb Studie und im Handbuchs eine gute Grundlage.

„Für jede Schule ist es zunächst relevant, alle Ebenen einzubeziehen und kleinere Arbeitsgruppen zu gründen. Nachdem es Schritt für Schritt in die Breite getragen wurde, sollten auch Übungen durchgeführt werden, um die Interventionen immer wieder auszuprobieren und zu reflektieren.“

Natürlich klingt das jetzt erst Mal nach einem gewissen Aufwand. So wie ich das allerdings wahrnehme, sehnen sich viele Schulen auch nach konkreten Interventionen: Interventionen, die  greifbar sind, direkt genutzt werden können und einen lernförderlichen Einfluss auf die Schüler:innen und die Schulentwicklung haben. Ich verweise an dieser Stelle auch noch einmal auf das Handbuch. Dort ist erläutert, wie zum Beispiel ein Schulentwicklungsprozess abläuft oder wie eine Evaluation eingebettet werden kann. Es gibt darin auch konkrete Materialien, wie zum Beispiel den Projektleitfaden zur Einführung der Interventionen.

Vielfalt entfalten: Inwieweit spielen die Weisen Interventionen auch schon in der Lehrer:innenbildung eine Rolle? Wo liegen hier die Potenziale aber auch Herausforderungen, um diese strukturell zu verankern?

RV: Der Beste Fall wäre natürlich, dass die Kolleg:innen aus dem Studium oder dem Referendariat kommen und diese Grundhaltungen bereits mitbringen und die Interventionen kennen. Ich nehme wahr, dass es bereits einige Studierende gibt, die mit den damit einhergehenden Themen schon in Berührung gekommen und sehr interessiert an den Interventionen sind. Es findet dazu bereits auf wissenschaftlicher, als auch auf transferorientierter Ebene  viel Diskussion statt. Man merkt, dass gerade bei den Lehramtsanwärter:innen der Wunsch für diese Diskussionen da ist, bzw. diese Diskussionen als Teil des Studiums implementiert sind. Und genau das ist der springende Punkt: Je früher die Interventionen verankert werden in der Lehrer:innenbildung, desto einfacher ist es, sie im Berufskontext zu adaptieren und zu nutzen. Wichtig ist es allerdings auch adäquate Lernformate für Lehrer:innen, die bereits im Berufskontext stehen, zu entwickeln. In der Zusammenarbeit mit der Bezirksregierung Arnsberg (NRW) wird zum Beispiel gerade sehr viel Energie aufgewendet, um die Interventionen in der dritten Phase der Lehrer:innenbildung  zu implementieren. Universitäten, die diese Interventionen noch nicht  vermitteln, sollten meines Erachtens nachziehen und diese, angemessen der gesellschaftlichen Veränderung, auch adaptieren. Und auf politischer Ebene, stellt sich  an dieser Stelle die Frage, inwieweit  wir als Postmigrantische Gesellschaft diese Themen verankern wollen, um es allen Menschen in unserer Gesellschaft zu ermöglich, ihre Potenziale auszuschöpfen, die soziale Schere bestmöglich zu minimieren und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Ich glaube, dass man dies über die genannten Interventionen und die Annahme einer wachstumsorientierten Grundhaltung anstoßen kann. Abschließend möchte ich noch eine Sache sagen, die mir sehr wichtig ist: Es ist sehr relevant, dass das schulische Personal nicht vergisst, welche Verantwortung es als vermittelnde Rolle in der Gesellschaft trägt. Diese Verantwortung stellt zwar eine Herausforderung dar, kann aber maßgeblich zu einer gerechteren Veränderung des Bildungssystems beitragen. Entscheidend ist die Haltung, die eingenommen wird.


*Self-handicapping: Dabei handelt es sich um eine Strategie, die sich Menschen zum Schutz des eigenen Selbstwerts zulegen, indem sie sich in einer Leistungssituation ein Handicap verschaffen. Das Handicap sorgt dafür, dass die Ursache für einen möglichen Misserfolg nicht in der eigenen Person gesehen wird. So entfaltet sich eine selbstwertschützende Wirkung. Beispiel: Schüler:innen, die zu spät für eine anstehende Leistungsüberprüfung anfangen zu lernen. Eine schlechte Prüfungsnote wird mit einer zu späten Vorbereitung begründet. 

 

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