Im Nordosten Brandenburgs, knapp 10 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, befindet sich das Schulzentrum „Am Friedensplatz“ Neutrebbin. Eine Schule mit 280 Schüler:innen, die aus über 30 umliegenden Dörfern und Ortsteilen kommen und die ländlicher kaum liegen könnte. So heterogen die Schüler:innschaft, so unterschiedlich und individuell sind auch die jeweiligen (Lern-)Bedarfe. Für Schulleiterin Doreen Kind, die das Schulzentrum seit dem Jahr 2020 leitet, steht jedoch fest: Vielfalt wird an der Schule als Chance begriffen.
„Wir sehen Vielfalt entfalten nicht als Projekt, das nach zwei oder drei Jahren aufhört. Sondern wir erhalten jetzt Impulse, langfristig und nachhaltig, für unsere weitere Schulentwicklung“, so Doreen Kind im Gespräch. Mit der Gründung des Schulzentrums im Jahr 2018, in dem die örtliche Grundschule mit der Oberschule zusammengelegt wurde, ergaben sich viele neue Bedarfe für die ohnehin schon sehr heterogene Schulgemeinschaft. Die Schüler:innenschaft ist geprägt durch eine große Vielfalt an sozioökonomischen Hintergründen, sexuellen Identitäten, Familien- und Wohnformen, Sprachen und individuellen Lern- und Förderbedarfen. Auch im Schulkollegium spiegelt sich diese Vielfalt in Form der jeweiligen Erfahrungen, Altersstrukturen und Herkünften wider, der man durch „Vielfalt entfalten“ noch gerechter werden möchte. Gleichzeitig stand die Schule auch im Bereich der Elternarbeit zu Beginn des Projekts noch vor einigen Herausforderungen. Die Schulleiterin nahm hier eine hohe Unzufriedenheit wahr – sowohl innerhalb der Schule als auch bei den Erziehungsberechtigen selbst. „Die Schule rief an, wenn es Schwierigkeiten gab“, so Doreen Kind. Erklärtes Ziel zu Beginn von „Vielfalt entfalten“ war daher auch, das partnerschaftliche Zusammenwirken zu verbessern und dieses auch wirklich zu leben.
So unterschiedlich die Schüler:innen hinsichtlich ihrer Bedarfe, Interessen, Stärken aber auch Entwicklungspotenziale sind, so wichtig ist es, jene Unterschiede zu schätzen und Heterogenität als Chance zu begreifen, so die Schulleiterin im Gespräch. Wertschätzung helfe dabei, Ängste und Vorurteile zu reduzieren – oder diese durch positive Erfahrungen erst gar nicht entstehen zu lassen. Auch wird die Bildung einer eigenen Meinung stark gefördert. Das gilt auch für die Ausbildung von grundlegenden Kompetenzen, wie Toleranz, Achtsamkeit, Kompromissbereitschaft oder auch die Argumentations- und Diskussionsfähigkeit. Wie die Schulleiterin weiter erklärt, seien jene Kompetenzen nicht nur im beruflichen sondern auch im privaten Leben essenziell. Aus diesem Grund legt die Schule einen hohen Wert darauf, dass ihre Schüler:innen voneinander lernen – in unterschiedlichen Lerngruppen und auch jahrgangsübergreifend. Die Lehrkräfte nehmen sich hier oft zurück. „Heterogenität bietet die Chance, dass auf Dauer Unterschiede nicht vorrangig als trennende Elemente gesehen werden, sondern dass wir uns als […] individualisierte Gemeinschaft von einzigartigen Menschen sehen, die miteinander leben und miteinander wachsen“, so Doreen Kind. In diesem Zusammenhang erklärt sie auch, dass der Fachunterricht und die Vermittlung von Wissen nicht immer die Hauptrollen spielen, sondern stattdessen zunehmend stärker die Bedeutung von Schule als Sozialraum im Fokus steht. Die Corona-Pandemie hätte einmal mehr gezeigt, wie wichtig Schule für Kinder und Jugendliche als sozialer Lebensraum ist.
Dass jene Heterogenität auch zu Konflikten und Spannungen führt, gibt die Schulleiterin offen zu und bekennt, dass es diese auch brauche. Wichtig sei jedoch, dass mit diesen Konflikten konstruktiv umgegangen und ein Raum für den gemeinsamen Austausch geschaffen wird, um verschiedene Standpunkte zu beleuchten. Wie Doreen Kind aber auch erklärt, sei es gerade bei schwierigen Konfliktsituationen nicht immer einfach, adäquat und diversitätssensibel zu reagieren oder auch die Missverständnisse, die einem solchen Konflikt zugrunde liegen, herauszufiltern. Denn oftmals entwickle ein Konflikt eine Eigendynamik, bei der die Ursache oft nicht mehr nachvollziehbar sei. Gute Erfahrungen hätte die Schule jedoch damit gemacht, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen und ihnen die Möglichkeit einzuräumen, ihre Sichtweisen anzubringen und anschließend gemeinsam eine Lösung zu entwickeln. Geplant ist im Rahmen von „Vielfalt entfalten“ hier auch die Entwicklung eines Interventionskonzepts.
Besonders stolz ist die Schulleiterin darauf, dass sich eine Lehrkraft der Schule aufgrund ihrer Expertise und Erfahrung angeboten hat, als Diversitätsbeauftragte tätig zu werden. Der Impuls kam ebenfalls durch „Vielfalt entfalten“. Vom Kollegium wurde dieser Vorschlag mit großer Wertschätzung angenommen und seither unterstützt. Gemeinsam mit der externen Prozessbegleitung schärft das Schulteam nun das Konzept für diese Stelle an der Schule. Fragen wie: Was sind die Aufgaben der Diskriminierungsbeauftragten – und vor allem, was sind nicht ihre Aufgaben? Oder auch: Wo braucht es gegebenenfalls stärkere Unterstützung durch externe Partner:innen? werden dabei aufgegriffen.
Im Rahmen von „Vielfalt entfalten“ hat sich das Schulzentrum einer positiveren Elternarbeit, einem diversitätssensibleren Unterricht und einem noch stärkeren Zusammenwachsen des Kollegiums verschrieben. Einiges sei schon erfolgreich angestoßen und erreicht worden, so die Schulleiterin. Die Kolleg:innen hätten erkannt, dass neue Austauschräume- und Formate keine Mehrbelastung, sondern eine echte Chance und einen Nutzen darstellen. Hier hätte ein deutliches Umdenken im Kollegium eingesetzt. Gleiches gilt für die Wertschätzung von guter Kommunikation, die erst die Grundlage für den Schulentwicklungsprozess darstelle. Außerdem beobachtet die Schulleiterin eine Offenheit für Veränderungen und eine hohe Sensibilisierung für die Themen im Kollegium. Die Mitwirkung von Schüler:innen und Erziehungsberechtigen im Schulentwicklungsprozess funktioniere ebenfalls besser. All das sei erst durch „Vielfalt entfalten“ möglich gewesen: „Das Projekt hat uns geholfen, in unsere eigene Kraft zu finden. Und es ist so wichtig, dass wir diese Weiterentwicklung auch wirklich leben wollen trotz der vielen Herausforderungen“, so Doreen Kind.
Im Fokus der nächsten Monate stünde nun der weitere Ausbau eines diversitätssensibleren (Fach-)Unterrichts und die damit verbundene Auseinandersetzung mit Materialien sowie die Erprobung neuer Lernformate. Das sei jedoch ein Prozess, der sich nicht von heute auf morgen abschließen ließe, betont die Schulleiterin, die sich in diesem Zuge auch mehr Unterstützung von Seiten der Schulbuchverlage wünscht. Die Materialien müssten ihrer Ansicht nach einer stärkeren Prüfung und Überarbeitung unterzogen werden. Auch brauche es mehr Raum und Zeit, um das vielfältige Angebot an Lehr- und Lernmethoden zielführender für die Entwicklung von personalen sowie sozialen Kompetenzen und zur Qualitätsentwicklung des Fachunterrichts nutzen zu können. „Schule spielt eine ganz zentrale Rolle in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“, betont Doreen Kind. Daher sollten sie viele Möglichkeiten erhalten, sich auszuprobieren und stärkenorientiert zu arbeiten. Dafür bräuchte es jedoch Schulentwicklung förderliche Rahmenbedingungen allgemein für die Schulen und Lehrkräfte. Die Schulleiterin plädiert für geringere Klassenfrequenzen, qualifizierteres Personal, vielfältigere Professionen, mehr Raum und Zeit für Prozessarbeit sowie bessere, umfangreichere und unbürokratischere Vernetzungs- und Fördermöglichkeiten mit Partner:innen im Sozialraum. Als Schule stoße man häufig an Grenzen, die Unterstützung und Expertise von außen verlangen – doch das sei oft nicht einfach zu organisieren.
Trotz allem bleibt: Das Schulzentrum „Am Friedensplatz“ Neutrebbin hat sich auf den Weg gemacht, wichtige Veränderungen anzustoßen, um Schüler:innen, Lehr- und Fachkräfte sowie die Erziehungsberechtigten besser als bisher einzubinden. Die Impulse, die von „Vielfalt entfalten“ kommen, wird die Schule auch weiterhin intensiv nutzen.